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Schmackhafte Hülle
Wenn die Verpackung selbst zur Zutat wird.
Im Gespräch mit Produktdesignerin Amelie Graf.
Unsere Müllberge wachsen und wachsen. Weltweit produzieren wir jährlich über zwei Milliarden Tonnen Müll. Das entspricht in etwa der gesamten Technosphäre* der Stadt Berlin.
Eine schlechte Nachricht, denn die Müllberge wachsen von Jahr zu Jahr schneller. Die gute Nachricht: Es arbeiten viele kreative Köpfe an innovativen Ideen, um unser Müllproblem in den Griff zu bekommen.
Was wäre zum Beispiel, wenn wir die Verpackung unserer geliebten Pasta einfach mitessen könnten?
Produktdesignerin tüftelt in ihrer Küche
Produktdesignerin Amelie Graf hat ein Jahr lang für ihre Masterarbeit an der Universität der Künste Berlin in ihrer Küche recherchiert, gewerkelt und experimentiert. Heraus gekommen ist eine ganz und gar nachhaltige Verpackungshülle, die sowohl essbar als auch kompostierbar ist:
Die MEAL BAG.
Amelie Graf ist Designerin auf vielfältigste Weise. Ursprünglich wollte sie Modedesign studieren. Doch sie entschloss sich zu einer Schneiderlehre, einer klassischen Ausbildung in der Textilindustrie bei Hugo Boss. Mit abgeschlossener Lehre und einem zusätzlichen Praktikum in München startete sie anschließend das Studium zur Industriedesignerin an der OTH** in Regensburg. Im zweiten Studienjahr ging es nach Berlin: „Mein Quasi-Auslandssemester in Berlin aus bayrischer Sicht. Dort entstand mein erstes Projekt, in dem es um konzeptionelle Produktgestaltung ging. Da habe ich bereits gemerkt, das ist die Richtung, in die ich weitergehen will.“
Nach weiteren Erfahrungen mit Materialien im Industriedesign im Zuge von Praktika ist Amelie Graf letztendlich in Berlin an der Universität der Künste gelandet. Hier entstand im Rahmen ihres Masterstudiums bei Axel Kufus das Konzept der MEAL BAG.
„Ich stellte mir die Frage, wie wir Menschen, insbesondere eben auch als Designer, dem Material und der Materialität begegnen, in einer Welt die immer digitaler wird.“ – Amelie Graf
Rohstoff Stein
„Zu Beginn meines Masterstudiums war das erste Semester dazu da, Recherche zu betreiben. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, in der Philosophie, aber auch in der Technologie. Für mich war dann eben auch der Bezug zur Materialität wichtig. Ebenso die Fragestellung, wie wir Menschen, insbesondere eben auch als Designer, dem Thema Material und Materialität in einer Welt, die immer digitaler wird, begegnen. Selbst der Beruf des klassischen Industriedesigners und Designers, wenn man es genau nimmt, ist mittlerweile hauptsächlich digital. Wir arbeiten mit 3-D-Programmen, wir entwickeln Produkte digital, es entstehen digitale Prototypen,“ erklärt Amelie. Der Kontakt zum Analogen ist verloren gegangen. Das analoge Anfassen und Hineinspüren ist eine Seltenheit in der Produktentwicklung. „Genau“, bestätigt sie. „So gehts einem dann auch mit den Materialien an sich. Ich selbst fokussierte mich im Ausgangsmaterial auf Stein. Mein Papa ist Bildhauer. Ich bin mit diesem Material groß geworden. Damit bin ich zu meinem Ursprung, zu meiner eigenen Geschichte zurückgegangen, bin dann in den Steinbruch gefahren und hab mir das alles bis ins Detail angesehen. Wie entstand denn das Material? Wie kam das ursprünglich dort hin? Der Esslinger Auerkalkstein wurde vor Jahrmillionen von Lebewesen gebildet, ist also ein ursprünglich organisches Material, das jetzt in Steinbrüchen abgebaut wird.“
Dies wird von einer sehr langen Kette an Menschen und Maschinen ermöglicht. Der Stein wird nach dem groben Abbau immer wieder zerkleinert, bis es am Ende nur mehr Steinstaub ist. Die Produktdesignerin hat ein haptisches Gedankenmodell formuliert. Stein aus dem Steinbruch wurde in der Werkstatt ihres Vaters zu immer kleineren Stücken verarbeitet. Es wurde nachempfunden, wie wir in der Realität mit Materialien umgehen: „Wir bauen die Rohstoffe aus der Natur ab, nehmen sie und machen immer kleinere Teile daraus, spalten sie und fügen sie dann wieder zusammen.“

Die erste essbare Folie
In der ersten Zusammensetzung experimentierte Amelie mit Epoxidharz. Ein Duomer aus einem Harz und einem Härter. Aufgrund der schädlichen Dämpfe musste bei der experimentellen Arbeit eine Maske getragen werden. Da dieser verbindende Stoff sich nicht abbaut, erweiterte sich die Recherche auf das Material. „Was ist denn mit Kalkstein? Das ist eigentlich Calciumcarbonat. Wo und in welchem Zusammenhang wird das eingesetzt?“, so die Überlegungen im Zuge der Materialfindung. Durch das anfangs benutzte Bindemittel Epoxidharz kam der Fokus auf Kunststoffe und die Auseinandersetzung damit. „Fossile Rohstoffe. Wo stehen wir aktuell damit? Uns wird vorgegaukelt, unsere Welt nicht ohne diese Stoffe, nicht ohne erdölbasierte oder fossile rohstoffbasierte Kunststoffe gestalten zu können. Was aber nicht stimmt. Genau das wollte ich mit meiner Arbeit zeigen. Ich habe mich dann auf die Suche gemacht nach Ersatz für dieses Bindemittel, das mich an diesem ganzen Versuch so gestört hat. Ich informierte mich über natürliche Klebstoffe. Welche Möglichkeiten gibt es?“
Genau zu dieser Zeit begann Amelie mit den Material-Experimenten. Stärkebasierte Rezepturen kamen hinzu. Es wurden unterschiedlichste natürliche Materialien beigemixt. Entstanden sind rund 150 Materialproben. Nach akribischer Beobachtung, Dokumentation und Verfeinerung der Rezepturen kam der Fokus auf Cellulose.
„Ja, das ist ein Lebensmittelzusatzstoff.“, erklärt mir Amelie. Ich persönlich denke bei Cellulose sofort an Papier. Doch dieser Stoff wird auf vielfältigste Weise in der Lebensmittelindustrie eingesetzt, zum Beispiel als Strukturgeber oder Füllstoff. Es ist ein reiner Ballaststoff ganz ohne Kalorien. Ein absoluter Aha-Moment im Zuge der Material-Experimente: „Meine Verpackung könnte nicht nur biologisch, sondern auch essbar sein.“ Auf der Suche nach einer geeigneten essbaren Cellulose fand Amelie Unterstützung durch das Jelu-Werk, Hersteller von natürlichen Fasern. So entstand die erste essbare Folie.
„Wir müssen dringend die materielle Zirkulation auf der Erde wieder herstellen.“ – Amelie Graf
„Gut! Jetzt habe ich das Material. Was kann ich damit alles anstellen? Ich zerkleinerte, mixte und machte neues Material daraus. Es lässt sich prima recyceln. Es kann als Kleber für die Bastelküche für Kinder verwendet werden. Wenn du dieses Material mit warmem Wasser mixt, entsteht so etwas wie Pappmaschee. Ok, das jetzt einfach so plump ins Essen mit zu schmeißen… Da sind zu viele Hemmungen da, das wirklich mit dem Essen zu verarbeiten und zu nutzen.“

Aus essbarer Verpackung mach Soßenbinder
In der Rezeptur befindet sich Stärke. Das ist ein hervorragender Soßenbinder. Eine perfekte Idee für die Nutzung der essbaren Verpackung. Das Kochrezept für Penne à la Arrabiata war schnell entwickelt: „Tomatenmark und Olivenöl. Durch die Cellulosefasern bekommt die Soße eine Struktur wie eine richtige, frische Tomatensoße. Es duftet und schmeckt herrlich.“ schwärmt Amelie.
Wenn man die essbare Verpackung gerade nicht verwenden will, ist diese eine gute Ergänzung in der Tiernahrung oder sie wird einfach kompostiert. Das klingt nach einem perfekten Kreislauf.
Im Lebensmitteleinzelhandel ist die MEAL BAG noch nicht zu finden. „Für eine industrielle Produktion sind noch ein paar Hürden zu meistern. Ich bin immer bereit, mit Firmen über eine Umsetzung zu sprechen. Ich freue mich, wenn es auf dieser Ebene weiter geht.“ verrät mir Amelie über die Zukunft ihrer MEAL BAG. Mit dieser war sie übrigens bei den Finalisten des deutschen Nachhaltigkeitspreises Design 2021. Wir finden zurecht und drücken die Daumen für eine baldige Umsetzung in der Verpackungsindustrie.
Mehr über Amelie und ihre Projekte sind auf www.ameliegraf.de zu finden.
* alles, was von Menschen erschaffen wurde
** Ostbayerische Technische Hochschule Regensburg
[Erschienen in der SAFTIG Ausgabe: GUT VERPACKT]
Fotos © Amelie Graf
Text © Anna Schumann
Gesprochen von Heidi Klug
Dieser Artikel ist hörbar.


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