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Birke Baum

Holz macht Hirn

Die Wirkung von Wald, Holz und Natur auf Geist und Gehirn.

Das grüne Vitamin

Der Schweizer Arzt und Natur-philosoph Paracelsus sagte einmal: „Die Kunst des Heilens kommt von der Natur – und nicht vom Arzt.“ Als Mediziner mag ich hier beleidigt die Nase rümpfen, aber als Mensch pflichte ich ihm begeistert bei. Wir alle kennen aus Erfahrung die beruhigende, erfrischende und befreiende Kraft der Natur, sei es bei einer Wanderung auf einem sonnigen Bergkamm bei klarer Sicht, in einem duftenden Nadelwald oder an der von Wind und Gischt gezeichneten Küste.

Aber warum eigentlich? Was passiert mit uns, wenn wir im Grünen sind? Und welche Faktoren sind dafür verantwortlich?

In jedem Fall ist ein Spaziergang durch die Natur eine multisensorische Erfahrung: Du atmest die frische Luft, während die Sonne warm auf dich herunter scheint. Du hörst das Vogelge- zwitscher und eine leichte Brise Wind weht um deine Nase. Du nimmst eine wohltuende Ruhe um dich herum wahr und genießt vielleicht eine spektakuläre Aussicht. An welchem Faktor liegt es nun, dass es dir nach kurzer Zeit so gut geht? Die wissenschaftliche Herausforderung bei solchen Studien ist, die genannten Aspekte getrennt voneinander zu betrachten, denn in der Natur wirken sie fast immer zusammen. Dennoch wollen wir dies im Folgenden einmal versuchen.

Natur sehen und riechen

Möglicherweise hat bereits der Anblick der Natur gesundende Effekte. Der schwedische Wissenschaftler Roger Ulrich stellte nämlich im Jahr 1984 bei einer Gruppe von Frauen, die wegen Brustkrebs im Krankenhaus waren, fest, dass sie sich nach einer medizinischen Operation besser erholten, wenn sie in Zimmern mit Blick auf Bäume untergebracht waren. Sie wiesen weniger postoperative Komplikationen auf und benötigten weniger Schmerzmittel.

Damals verwunderten die Ergebnisse noch die Fachwelt. Heute wissen wir: Die menschliche Wahrnehmung der beiden klassischen Naturfarben Grün und Blau kann sich neurophysiologisch beruhigend auswirken. Der Anblick grüner Natur wirkt entspannend und reduziert depressive Anwandlungen und Wutgefühle. Und die Sicht auf einen blauen Himmel beruhigt die Sinne und vermittelt das Gefühl von Geborgenheit. Die Redensart „sich grün und blau ärgern“ war mir daher in diesem Zusammenhang ehrlich gesagt immer schon ein Rätsel. Als Psychiater möchte ich widersprechen, denn genau das Gegenteil scheint der Fall zu sein.

Neben den visuellen sind es möglicherweise auch die olfaktorischen Reizeindrücke, die einen gesundheitsförderlichen Effekt anstoßen. Diskutiert werden beispielsweise die sogenannten Terpene. Bäume produzieren diese Botenstoffe, um schädliche Insekten abzuwehren. Beim Spaziergang durch einen Wald atmen wir sie ein und stimulieren die Produktion von Killerzellen. Diese Zellen werden unter anderem zu Infektabwehr benötigt. Über die Stärke dieses Effekts ist man sich zwar noch im Unklaren, aber möglicher-weise tragen Terpene zumindest in einem geringen Maß dazu bei, unser Immunsystem zu stärken, wenn wir uns viel im Wald aufhalten.

Holz ist (para)sympathisch

Holz selbst scheint besonders wohltuende Effekte auf uns auszuüben. In großen Umfragen empfanden die meisten Interviewten Holz als warm, gemütlich und stressreduzierend. Nun ist das subjektive Erleben noch kein wissenschaftlicher Beleg. Um die vermutete Wirksamkeit der Natur auf unsere Gesundheit genauer erforschen zu können, lösten Forscher das Holz aus seiner ursprünglichen Waldumgebung heraus und untersuchten Menschen in Zimmern mit Holzmöbeln. Mehrere Studien zeigten übereinstimmend, dass Blutdruck und Herzfrequenz von Probanden tatsächlich sanken, wenn sie sich in Räumen mit Holzmöbeln aufhielten, selbst wenn sie nebenher arbeiteten. Auch Schüler wiesen eine geringere Stressbelastung auf, wenn sie in Klassenzimmern mit Holzeinrichtung lernten.

Möglicherweise ist die höhere Aktivität des parasympathischen Nervensystems wesentlich für die Entspannung. Es senkt den Blutdruck, verlangsamt die Atmung und unterstützt die Erholung während der Nacht. Kann Holz dann vielleicht das Einschlafen verbessern? Genau dies konnte kürzlich in einem Experiment belegt werden: Der Schlaf von 15 Probanden, die insgesamt für 253 Nächte beobachtet wurden, verbesserte sich, wenn sie in Zirbenholzbetten schliefen. Ihre Herzfrequenz während der Nacht lag durchschnittlich niedriger als in der Vergleichsgruppe, die in Metall- oder Aluminiumbetten geschlafen hatte.

Der parasympathische Teil des Nervensystems ist übrigens auch aktiv, wenn wir aufeinander zugehen und soziale Kontakte knüpfen. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass in Wohnheimen für Senioren, in denen überwiegend Holz für die Inneneinrichtung verwendet wurde, das Miteinander zwischen den Bewohnern zunahm. Holz bringt uns möglicherweise einander näher.

Die Natur macht uns klein

Es existiert noch ein weiterer wundersamer Effekt der Natur, dem sich Wissenschaftler in letzter Zeit zunehmend widmen: Es ist der beeindruckende Anblick der unberührten Wildnis, hoher Berge oder tiefer Täler. Wenn wir staunen, empfinden wir Ehrfurcht und Dankbarkeit. Und wir selbst kommen uns dabei klein vor, weil wir merken, wie groß und wundersam die Welt um uns herum ist und wie unwichtig dabei unsere eigenen Probleme sind. Der Blick für das Erhabene kommt uns im Alltag abhanden, denn wir sind mit dem Chaos überbordender Aufgaben beschäftigt; es bleibt kein Platz für das Staunen, wie eine Studie an 115 Studenten zeigte. Die Natur erinnert uns daran, wie klein und unbedeutend wir sind – und damit auch ein Großteil unserer Probleme. Das wirkt beruhigend. Die Natur „erdet“ uns.

Am Schreibtisch oder auf unserer Wohnzimmercouch bleiben unsere Probleme meist übergroß; in der Weite und der Größe der Natur schrumpfen die Sorgen und der Stresslevel sinkt. Schon Immanuel Kant machte sich über diese Wirkung von Natur auf unsere Seele Gedanken. Unsere Kleinheit im Gegensatz zur Größe der Natur würde dazu beitragen, unsere Sorgen hinter uns zu lassen. Und durch diesen „inneren Abstand“ kehren wir zu einer mentalen Stabilität zurück.

Zusammengefasst wirkt die Natur also auf verschiedenen Ebenen positiv auf uns. Wie sagt man so schön: „Der Wald ist mehr als die Summe seiner Bäume.“

Gehe raus!

Dennoch scheinen wir vom grünen Vitamin nur wenig Gebrauch zu machen: Ein britisches Markt- und Meinungsforschungsinstitut konnte jüngst anhand einer Befragung an 16.000 Menschen aus verschiedenen Ländern Europas und Nordamerikas zeigen, dass Menschen heute 90 % ihrer Lebenszeit in Innenräumen verbringen. Rund 15 % gaben sogar an, an einem normalen Werktag praktisch niemals länger vor die Tür zu gehen (die Briefkastenleerung hier außen vorgelassen). Nach einer Untersuchung der Harvard School of Public Health verbringen amerikanische Erwachsene heutzutage sogar mehr Zeit in ihrem Auto als „draußen“!

Wie viel Natur ist gut für uns? Gibt es eine Mindestmenge oder gar eine Überdosis? Tatsächlich sind Forscher einmal dieser Frage nach gegangen. Eine Studie an 19.806 Menschen in den Jahren 2014 bis 2016 kam zu folgendem Ergebnis: Gesundheitlich und für das Wohlbefinden förderlich war ein Aufenthalt von mindestens zwei Stunden (und mehr) pro Woche. Der positive Effekt stieg bis circa fünf Stunden pro Woche weiter an. Danach trat eine Sättigung ein und es zeigte sich keine weitere Verbesserung mehr. Der Sättigungseffekt trat übrigens bei Frauen und Männern, und das in allen Altersgruppen in ähnlicher Weise ein. Du siehst also, du brauchst nicht die überwiegende Zeit deines Tages im Wald verbringen. Eine Naturzeit von zwei bis fünf Stunden pro Woche reichen völlig aus. Vielleicht trägt die wunderbare Zeitschrift, die du gerade in den Händen hältst (und mein kleiner Beitrag) dazu bei, dich ein wenig zu motivieren.

Egal, ob du durch einen Terpen-durchtränkten Wald läufst, in der grünen Wiese oder unter blauen Himmel liegst, oder ob du auf einem Baumstumpf sitzt und das Holz streichelst: Die Natur wirkt positiv – und dies auf verschiedenen Wegen! Erfasse sie mit all deinen Sinnen – und sauge sie ganz tief in dich auf.

Ein Vorschlag zum Schluss: Gehe raus. Am besten jetzt sofort! Vielleicht treffen wir uns dort? Ich wünsche dir bestmögliche Erholung.

Volker Busch ist Neurowissenschaftler, Arzt und Therapeut. An der Universität Regensburg erforscht er die psycho-physiologischen Zusammenhänge von Stress, Schmerz und Emotionen.

Zuletzt erschien sein Spiegel-Bestseller Kopf frei! im Droemer-Verlag. In seiner Podcastreihe Gehirn Gehört erklärt er spannende Neuigkeiten aus der Welt von Geist und Gehirn.

www.drvolkerbusch.de

Kopf frei Buch von Dr. Volker Busch

[Erschienen in der SAFTIG Ausgabe: HOLZGEFLÜSTER]

Fotos © Anna Schumann
Text © Dr. Volker Busch
Podcast gelesen von Heidi Klug

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SAFTIG Podcast Cover Holz macht Hirn

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